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Jürgen Bulla
 
FOLGEERSCHEINUNG

 
"Bist du dir sicher", wollte er wissen, so sagt man. Sie plärrte angeblich "ja" in die Muschel, gemeint ist die Sprechmuschel des Telefons. "Ich kann mir zwar vorstellen, dass man den halben Inhalt eines Kühlschranks, das sind die darin befindlichen Lebensmittel, mitnimmt, aber einen halben Kühlschrank, das kann ich mir nicht vorstellen", soll er gesagt haben. Sie schrie ein ungeduldiges "doch" ins Telefon, hört man, das, wie ich als Erzähler mir denke, bei ihrer Ungeduld zu erwarten gewesen war. Der Kühlschrank sei nur noch zur Hälfte vorhanden. Das heiße, soll sie geschrieen haben, er sei nur noch zur Hälfte in ihrer Wohnung, die andere Hälfte sei irgendwo da draußen, und er habe sie mitgenommen. Er sah wohl ein, dass Widerrede zwecklos war, und befahl sich wahrscheinlich, weiter nicht verwundert zu sein und seine Tante ernst zu nehmen. Sie teilte ihm, heißt es, noch ein paar Einzelheiten bezüglich des Fluchtweges ihres Mannes mit: Ein Fahrrad, mit einem halben Kühlschrank auf dem Gepäckträger, und auf dem Sattel ein rotbirniger grauhaariger Mann mit kariertem Hemd, und das Fahrrad, rostig, zwanzig Jahre alt (ungefähr), fuhr mit dem Besoffenen in Richtung Wald. Dann schickte sie ihren Neffen auf die Reise, erzählt man sich, denn es muss darum gegangen sein, einen Onkel zurückzuholen, und seinen Onkel kann man, denke ich mir, nur zurückholen, wenn man dessen Neffe oder Nichte ist. Wenn man ihn nicht in der Eigenschaft des Neffen zurückholt, holt man ihn einfach als irgendeinen Mann zurück. Er war der einzige Neffe des Mannes, hat man mir gesagt, und damit der einzige, der den Mann als Onkel zurückholen konnte.

Er zog eine Jacke über, steckte ein bisschen Proviant ein, nahm einen Regenschirm mit und verließ das Haus (vorher, das wurde da, wo es hingehört hätte, zu erwähnen vergessen, hatte er sich noch artig von der Tante am Telefon verabschiedet und aufgelegt, heißt es. Außerdem soll er noch über den Teppich gestolpert sein, das war der Teppich im Wohnzimmer der Wohnung, in der er wohl wohnte, und die war irgendwo, da bin ich sicher). Ich als Erzähler verstehe zwar nicht, wozu er den Regenschirm brauchte, wo doch nach Angaben einiger Menschen, die an jenem Tag in der Gegend unterwegs gewesen sein sollen, in der Stadt bestes Wetter war, aber ich kann nicht alles wissen.

Folgendes, und ich als Erzähler verlasse mich auf die Berichte von Menschen, die an jenem Tag wenngleich nicht dabei, so doch in der Nähe waren und zum Teil später mit ihm sprachen, wurde mir über sein weiteres Vorgehen mitgeteilt: Er ging zur Bushaltestelle, die es nachweislich gibt, und stellte fest, dass kein Bus zum Wald fuhr. Da entschied er sich, zu Fuß zum Wald zu laufen, weil er kein Auto oder Fahrrad hatte, und es ärgerte ihn, dass der Onkel, der sowieso schon seit ein paar Stunden weg war, dadurch noch mehr Vorsprung gewann. Die Zeit von der Bushaltestelle am Stadtrand bis zum Wald war zu Fuß geschätzt (d.i. nach seiner Schätzung) eine halbe Stunde. Er ging vor sich hin und hatte neben all jenen Gedanken, die man so auf einmal hat, eigentlich nichts weiter im Sinn. Um zu sehen, ob die Zeit bis zum Wald wirklich eine halbe Stunde war, ging er nach einem Stück Strecke mit geschlossenen Augen. Er machte die Augen erst viel später wieder auf, nachdem er meinte, es sei eine halbe Stunde vergangenen. Verlaufen hatte er sich nicht, weil er die Straße unter den Füßen, oder, um endlich einmal genau zu sein, unter den Schuhen spürte. Er schaute auf die Uhr und sah, dass 27 Minuten vergangen waren. Dann blickte er geradeaus, aber kein Wald war in Sicht. Er überlegte, dass er den Wald längst sehen müsste und wunderte sich, woher es kam, dass er nur freies Feld sah. Er kannte sich einigermaßen aus in der Gegend. Er war auf der richtigen Straße. Weil ihm nichts besseres einfiel, ging er weiter.

Nach einer Weile schien sich etwas vor seinen Augen abzuzeichnen. Es war verschwommen. Konnte das der Wald sein? Es schien horizontale und vertikale Äste zu haben. Der Wald an der Sache war höchstens das Schlanke, Gerade. Aber es schien kein Holz zu sein, das da vor ihm in der Luft schwamm, zu schwimmen schien. Er kam von der Idee ab, dass es der Wald sein könne. Es könne, so glaubte er jetzt, das Fahrrad sein. Wieso sollte das Fahrrad nicht vor dem Wald kommen. Der Onkel hatte das Fahrrad vielleicht abgestellt, bevor er in den Wald ging. Aber warum hätte der Onkel nicht zumindest bis an den Waldrand fahren sollen. Diese Frage schien zunächst nicht zu beantworten. Er tröstete sich damit, dass die Menschen manchmal anderen Menschen unverständliche Dinge tun.

Er ging weiter. Was da so rumschwamm, wurde mit zunehmender Nähe nicht etwa deutlicher. Was heißt überhaupt: Mit zunehmender Nähe! Er schien dem Verschwommenen gar nicht näher zu kommen. Er überlegte, ob er tatsächlich ging. Er hob einen Stein von irgendwo auf und legte ihn dort auf die Straße, wo er stand. Dann ging er ein paar Schritte und drehte sich um. Der Kieselstein lag in einiger Entfernung hinter ihm. Ja, er bewegte sich vorwärts, oder eben auf der Straße in eine Richtung, die sich nicht änderte. Diese Erkenntnis munterte ihn auf.

Als er weiterging und das Schwimmende vor sich sah, dachte er wieder nach, was es sein könne. Eine Mischung aus Wald und Fahrrad konnte alles Mögliche ergeben. Aber weil es für seinen Zweck nicht alles oder sagen wir besser vieles Mögliche ergeben durfte, fing er an zu meinen, dass es wenn nicht Wald oder Fahrrad, höchstens Kühlschrank oder Onkel sein könne. Die Wald-Fahrradmischung sein Onkel? Das schien ihm unwahrscheinlich. Der Kühlschrank passte auch nicht ins Bild. Dann dachte er an die Linien und meinte es zu haben: Das Karohemd des Onkels konnte es sein. Vielleicht hatte der Onkel sein Hemd ausgezogen, obwohl es nicht warm war. Ein Betrunkener, dachte er, schwitzt leicht, wenn er sich anstrengt.

Er ging weiter und blieb stehen. Das Verschwommene war auf einmal neben ihm. Es schien an der Luft zu lehnen. Aber bei näherem Hinschauen oder Hinschauen aus einem anderen Blickwinkel lehnte es an einem Baum; ein Gebilde aus Lehm, irgendwie zusammengemischt, und noch während er überlegte, was es genau war, entpuppte es sich ihm als das Fahrrad.

Er streifte den Baum und streifte um den Baum und sah, dass dahinter andere Bäume waren, die sich nur versteckt hatten. Er war sich nicht sicher, ob er irrte, aber auf beinahe jeden Fall hatte er so ein Waldgefühl, das er zu kennen glaubte. Er meinte, durch den Wald zu gehen, den er zu sehen glaubte. Er meinte Schatten, singende Vögel, Spinnennetze, ein paar Strahlen Sonne und dann eine Lichtung. Was er dort sah, war nichts Ungeläufigeres als ein halber Kühlschrank. Der Onkel, so meinte er, könne nicht weit sein.

Er glaubte, jetzt tiefer ins Dickicht des Waldes vorzudringen. Je weiter er zu gehen glaubte, desto mehr meinte er, dass etwas in ihm wüchse. Ob es ein Baum war oder der Onkel? Er spannte den Regenschirm auf, das heißt wollte ihn aufspannen und spannte ihn nicht auf, weil er ihn nicht mehr bei sich hatte. Der Regenschirm war bei jemand anderem oder bei etwas anderem. Den Proviant konnte er auch nicht mehr aus der Tasche ziehen, weil keiner mehr da war, und gar nicht nebenbei fiel ihm auf, dass er ein kariertes Hemd trug und nach seinem eigenen Dafürhalten betrunken war. Dabei war er sich beinahe sicher, nichts getrunken zu haben. Er setzte sich auf den halben Kühlschrank und wartete. Konnte es sein, dass sein Onkel er selbst war? Hatte er gar nicht mit seiner Tante, sondern mit seiner Frau telefoniert? Er konnte sich kaum erinnern. Er saß weiter und dachte vor sich hin. Er schlug sich mit der Faust ins Gesicht und spürte nichts. Dann sprang er auf und nahm sich zusammen, wie immer so etwas aussehen mag. Er fasste einen Baum an und glaubte, sich sicher sein zu können, dass der Baum wirklich war. Schon wurde ihm etwas leichter (er fühlte sich jetzt offenbar doch, erst schwer, dann leicht), als ein vielleicht zwanzig- oder vierzigjähriges Kerlchen auf ihn zukam, das erleichtert und gleichzeitig böse zu sein schien und sagte, dass seine Frau angerufen habe: Er solle nach Hause kommen.

Der so bezeichnete Onkel ging mit dem angeblichen Neffen in eine Richtung, wo eine Frau warten sollte, die die Tante des Neffen und die Frau des Mannes zu sein erklärt haben sollte. Auf dem Weg hatte er weiterhin eine Menge Gedanken. Natürlich. Was ihn aber am meisten wunderte, war, dass ihm von dem, was er erlebt zu haben und zu erleben glaubte, am denkbarsten ein halber Kühlschrank schien.
 

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